Schwindel am Arbeitsplatz

Hessisches Landessozialgericht vom 20.07.2015, L 9 U 5/15

Das Landesgericht Hessen stellt in seinem Urteil vom 20.07.2015 klar, dass ein Sturz im Büro eines Versicherten, der durch einen Schwindelanfall mit verursacht wurde, als Arbeitsunfall im Sinne der Gesetzlichen Unfallversicherung anzusehen ist.

Nicht nur allein der Sturz eines Versicherten in seinem Dienstzimmer ist als versicherter Arbeitsunfall anzusehen, sondern auch das Merkmal einer Erkrankung – im vorliegenden Fall der Schwindelanfall – das für sich betrachtet eine nicht versicherte Wirkursache darstellt. Dieses kann durchaus einen regelwidrigen Körperzustand darstellen, der bei der Feststellung der Unfallkausalität berücksichtigt werden muss.

Bei der Beurteilung der Art und Schwere eines Unfallereignisses ist es wichtig, dass eine vorhandene innere Ursache (z. B. Schwindel) im Zusammenhang mit einem speziellen Risiko am Arbeitsplatz, wie einem nicht arretierten Schreibtischrollcontainer, durchaus eine Unfallkausalität darstellen kann.

Zum Sachverhalt

Zu der Entscheidung musste es kommen, weil ein 44-jähriger Versicherter am 16.10.2008 in Ausübung seiner Tätigkeit als Laborleiter im Tumorvakzinationszentrum eines Universitätsklinikums einen Unfall erlitt, den er als Arbeitsunfall anerkannt haben wollte. Der Kläger hatte in seinem Büro Daten in einen PC eingegeben. Nach der Fertigstellung der Erfassungstätigkeit wollte er sich in das Labor im Nebenraum begeben. Als er aufstand wurde ihm schwindelig. Er wollte sich, um nicht zu stürzen, mit der rechten Hand an einem Schubladenrollcontainer abstützen, der aber wegrollte. Der Kläger stürzte deshalb zu Boden und war dann für einige Minuten bewusstlos.

Als er wieder zu sich kam bemerkte er, dass beim Sturz ein Brillenglas zerbrochen und sein Auge verletzt war. Aufgrund des Eindringens eines Splitters des Brillenglases ins Auge war die linke Hornhautlinse durchbohrt worden, weshalb der Kläger eine deutliche Minderung des Sehvermögens (Visusreduktion) wahrnahm. Diese musste dann noch am Unfalltag operativ versorgt werden. In der Augenklinik der Universitätsklinik erfolgten eine Hornhautnaht und eine Linsenabsaugung. Die Hornhautnaht wurde dann am 03.03.2009 wieder entfernt und in einer weiteren Operation am 20.08.2009 der Faden an der Hornhaut. Wegen der Schwere der Verletzung musste dann am 21.04.2010 eine Transplantation der Hornhaut, eine sogenannte Keratoplastik, erfolgen.

Im Rahmen der allgemeinen ärztlichen Behandlung wurde durch internistische und neurologische Untersuchungen versucht, die Ursache für den Schwindelanfall abzuklären, was allerdings ohne Erfolg blieb.

Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte aufgrund ihrer Ermittlungen die Anerkennung des Unfalles vom 16.10.2008 als Arbeitsunfall mit Bescheid vom 21.12.2011 ab, was der Versicherte nicht akzeptierte und Widerspruch einlegte. Nachdem sein Widerspruch bei der BG nicht von Erfolg gekrönt war, reichte der Versicherte am 29.02.2012 beim Sozialgericht Marburg Klage ein und erhielt dort auch Recht. Dies wiederum akzeptierte die beklagte BG nicht und ging in die Berufung beim Hessischen Landessozialgericht.

Das Landessozialgericht gab mit Urteil vom 20.07.2015 unter dem Aktenzeichen L 9 U 5/15 dem Kläger Recht und wertete das Ereignis vom 16.10.2008 als Arbeitsunfall.

Wie kam es zur Entscheidung

Der Unfall des Klägers vom 16.10.2008 sei eindeutig als Arbeitsunfall im Sinne der Gesetzlichen Unfallversicherung zu werten, der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 21.12.2011 war rechtswidrig und außerdem sei der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt.

In erster Linie stützten sich die Richter bei ihrer Entscheidungsfindung auf § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII, der Arbeitsunfälle als Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 bzw. § 8 Abs. 2 SGB VII begründeten Tätigkeit darstellt. So sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen als Unfälle zu werten (§ 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII). Voraussetzung für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls sind somit die Zuordnung der Aufgabe des Verletzten zum Unfallzeitpunkt der versicherten Tätigkeit (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sowie eine zeitliche Begrenzung dieser Aufgabe die von außen auf den Körper einwirkt und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht (unfall- und haftungsbegründende Kausalität).

Im vorliegenden Fall sahen die Richter alle genannten Voraussetzungen als erfüllt an. Zum einen war der Kläger zum Unfallzeitpunkt auf jeden Fall unfallversichert, da er als angestellter Laborleiter im Tumorvakzinationszentrum der Uniklinik beschäftigt war (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 128 Abs. 1 Nr. 1a SGB VII). Zum anderen sahen die Richter zwischen der von Kläger vor bzw. zum Zeitpunkt des Unfalls ausgeübten Verrichtung eindeutig einen inneren Zusammenhang mit seiner Tätigkeit, die Dateneingabe in den PC und der darauffolgende Gang ins Labor gehören zweifelsohne zur Tätigkeit eines Laborleiters. Des Weiteren führten die Richter aus, dass der Sturz des Klägers auf den Boden seines Büros eindeutig als Unfall zu betrachten sei, da es sich hier um eine von außen auf den Körper einwirkende, zeitlich begrenzte Einwirkung handelt (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII), die außerdem kein besonderes oder ungewöhnliches Geschehen erfordere. Simple Alltagsvorgänge, wie z. B. Umknicken oder Stolpern über die eigenen Füße sowie das Aufschlagen auf den Boden genügen hier durchaus, da dies als Einwirken der Außenwelt auf den Körper gesehen werden muss. Ein auf den Körper einwirkendes Ereignis im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII liegt beim Aufschlagen auf den Boden immer vor, egal was die Ursache des Sturzes war.

Die Richter waren außerdem der Ansicht, dass im vorliegenden Fall eine Unfallkausalität unbedingt vorgelegen hat. Die versicherte Tätigkeit war in jedem Fall die Wirkungsursache für das Unfallereignis, da es ohne die versicherte Tätigkeit des Klägers bzw. seiner Verrichtung zum Unfallzeitpunkt (Aufstehen vom Schreibtisch, Gang ins Nebenzimmer) nicht zu einem Sturz habe kommen können. Der dem Unfall vorausgegangene Schwindelanfall ist hierbei als konkurrierende nichtversicherte Wirkursache einzubeziehen. Außerdem war der Kläger nicht wegen seines Schwindelanfalles gestürzt sondern wegen des wegrollenden Schubladencontainers.

Eine Unfallkausalität ist trotz des Vorhandenseins einer inneren Ursache auf jeden Fall vorhanden, weshalb das Unfallereignis auch der versicherten Tätigkeit zuzuordnen ist. Der Kläger hatte den Unfall aufgrund einer Gefahr erlitten die an seiner versicherten Arbeitsstätte ständig vorhanden war.

Das Landessozialgericht Hessen bestätigte mit seinem Urteil nochmals die Auffassung des Sozialgerichtes Marburg. Das Ereignis vom 16.10.2008 ist als Arbeitsunfall zu werten. Die Berufung der Beklagten wurde abgewiesen.

Wichtig für die Praxis

Bei Unfällen aus so genannter innerer Ursache sieht das LSG Hessen zwar keinen Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis wenn der Unfall (nach Art und Schwere) durch eine körpereigene Ursache zustande gekommen ist. Betriebliche Einwirkungen trugen hier nicht wesentlich zum Unfall bei (Urteil des BSG vom 15.02.2005; Az. B 2 U 1/04R).

Wenn allerdings körpereigene Vorgänge die innere Ursache mitverantworten und dadurch äußere Einwirkungen (erhöhte Hitzeeinwirkung, höhere Lautstärken, unübliche Arbeiten etc.) die im Zusammenhang mit versicherten Tätigkeiten stehen, wesentlich beeinflusst werden, so ist die versicherte Tätigkeit in solchen Fällen als rechtlich wesentliche Ursache für ein Unfallereignis zu betrachten (Urteil des BSG vom 15.02.2005, Az. B 2 U 1/04 R).

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